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Von der Kunst des Kürzens in der Literatur

02.09.2024

Literaturwissenschaftler Carlos Spoerhase holt Kurzfassungen aus der Tabuzone.

Worum ging es noch mal in Schillers Wallenstein? Der Blick in eine Kurzfassung könnte weiterhelfen. Kein Grund, sich zu schämen, meint Literaturwissenschaftler Carlos Spoerhase. Der Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der LMU hat gerade ein Buch über Kurzfassungen und ihre Rolle in der literarischen Kultur veröffentlicht.

Prof. Dr. Carlos Spoerhase steht vor einer blauen Wand

Prof. Dr. Carlos Spoerhase

© LMU/Florian Generotzky

Warum sind Kurzfassungen literarischer Werke so beliebt?

Carlos Spoerhase: Wir leben in einer Epoche, in der die Aufmerksamkeitshorizonte sich zu reduzieren scheinen. Man hat immer weniger Zeit, um umfangreiche Bücher zu lesen. Deswegen gibt es sehr viele unterschiedliche Bemühungen, den Weg zu umfangreicheren literarischen Werken, auch Sachbüchern, abzukürzen.

Das können mit Playmobil gespielte Kurzfassungen der klassischen deutschen Literatur sein, wo der Zauberberg im Video in zwei Minuten nachgespielt wird. Aber natürlich gibt es auch ernsthafte Varianten: Große Romane, die als Hörbücher nacherzählt werden. Oder Unternehmen wie Blinkist, die anbieten, dass man sich jedes Buch in fünfzehn Minuten zu Gemüte führen kann.

In jüngerer Zeit ist noch die generative künstliche Intelligenz dazugekommen. Man kann im Grunde einen zwanzigseitigen wissenschaftlichen Aufsatz in ChatGPT einlesen und sich davon eine Kurzversion herstellen lassen, ganz nach den eigenen Bedürfnissen. Es ist auch möglich, einen Text in einer Sprache zusammenfassen zu lassen, den Zwölfjährige verstehen.

Wenn Kurzfassungen so verbreitet sind: Wie verändert das den Blick auf Literatur?

Das ist die Frage, die mich beim Schreiben des Buchs sehr umgetrieben hat. Auf den ersten Blick würde man sagen, das Lesen einer Kurzfassung ist ein Versuch, nicht mehr das Buch in seinem Ganzen ästhetisch zur Kenntnis zu nehmen, sondern nur kleine Häppchen, die einem erlauben, zum Beispiel auf einer Party so zu tun, als ob man das Ganze gelesen hätte. Aber nach längerem Nachforschen, auch zur Geschichte von Kurzfassungen, ist mir klar geworden, dass es so einfach nicht ist. Kurzfassungen spielen schon seit der Antike eine wichtige Rolle in der literarischen Kultur.

Robinson Crusoe in kurz

Erstausgabe von Robinson Crusoe

Eine Erst-Ausgabe von Robinson Crusoe

fotografiert bei einer Versteigerung bei Sotheby in London 2019. | © IMAGO / ZUMA Press / Alberto Pezzali

Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass die meisten von uns zum Beispiel Robinson Crusoe nur in gekürzter Fassung kennen. Warum?

Bereits im 18. Jahrhundert waren drei Viertel aller Ausgaben, die von Robinson Crusoe zirkulierten, Kurzfassungen. Manchmal ausgewiesen, manchmal nicht. Das heißt: Die meisten, die im 18. Jahrhundert und danach Robinson Crusoe gelesen haben, hatten eine gekürzte Fassung.

In Robinson Crusoe gibt es im Original sehr lange, theologisch motivierte Passagen, die bei den Kurzfassungen rausgestrichen wurden. Diese Kürzungen führten erst dazu, dass Robinson Crusoe ein moderner Abenteuer-Roman wurde, der sehr stark an einem Plot orientiert ist, an einer Hauptfigur, die bestimmte Dinge erlebt und mit bestimmten Hindernissen konfrontiert ist.

Robinson Crusoe ist also unter der Hand zu einem Abenteuer-Roman geworden. Und weil er so erfolgreich war und ist, hat er zur Durchsetzung dieses neuen literarischen Modells erheblich beigetragen. Das ist also nichts, was der Autor selbst gemacht hätte. Sondern was im Grunde anonym die Personen produziert haben, die diese Kürzungen erstellt haben – wir kennen ja in den meisten Fällen nicht ihre Namen.

Das war also eine eigene Leistung derjenigen, die gekürzt haben?

Ja. Das ist eine eigene Leistung. Und das ist auch noch einmal wichtig zu sagen. Denn erst in jüngerer Zeit, wirklich erst in den letzten Jahren, gibt es in der Literaturwissenschaft eine höhere Aufmerksamkeit für die Vermittlerfiguren, die zur Herstellung eines Textes beitragen – dazu zählen Lektoratsaktivitäten, aber auch Personen im unmittelbaren Umkreis, die häufig erste Fassungen lesen und annotieren. Diese ganzen kollaborativen Dimensionen von literarischer Produktion rücken erst langsam in den Blick. Die Personen, die kürzen, sind ein Teil dieses kollaborativen Prozesses.

Sie nennen sie sogar „Verkleinerungskünstler“.

Ja, es ist wirklich eine eigene Kunst. Es ist auch eine Frage, die man über den Bereich der Literatur hinaus verfolgen könnte. Wenn man sich zum Beispiel die wichtige Rolle des Trailers im Kinofilm ansieht: Wie schafft man es, einen 90-minütigen Hollywood-Film in einen Trailer von drei Minuten zu komprimieren?

Haben Kurzfassungen auch zu einer stärkeren Verbreitung literarischer Werke beigetragen?

Kurzfassungen haben auf jeden Fall einen demokratischen Aspekt. Personen, die aufgrund ihres Bildungsstands oder anderer Umstände keinen Zugang zu den originalen literarischen Werken gewinnen, können diesen über Kurzfassungen finden. Einerseits weil sie häufig materiell so hergestellt sind, dass sie weniger kosten. Aber auch bei der Frage, welche Aufmerksamkeitsleistung man erbringen und welche Bildungsvoraussetzungen man erfüllen muss, um bestimmte Dinge nachzuvollziehen, spielen Kurzfassungen eine sehr wichtige Rolle.

Verschiedene Ausgaben von Klopstocks Messias stehen nebeneinander

Der Messias von Friedrich Gottlieb Klopstock

hat fast 20.000 Verse. Die erste Kurzfassung entstand bereits im 18. Jahrhundert. | © Carlos Spoerhase

Im pädagogischen Kontext scheinen Kurzfassungen jedoch eher negativ gesehen zu werden. Warum?

Das ist leider so. Die Debatten beginnen schon Anfang des 20. Jahrhunderts. Es gab damals eine vehemente Zurückweisung, literarische Werke in verkürzter Fassung in der Schule zu diskutieren. Die Vorstellung ist: Entweder die Schülerinnen und Schüler können ein Werk in der Ganzfassung lesen oder man lässt es halt. Diese Diskussion lässt sich bis in die unmittelbare Gegenwart weiterverfolgen. Wenn etwa in der FAZ steht, in der Schule würden keine Ganztexte gelesen und das sei der Grund, warum die literarische Kultur dem Niedergang geweiht sei. Da würde ich sagen: Das ist falsch.

Es gibt gute Formen, Texte in einer komprimierten Form zur Kenntnis zu nehmen. Das bedeutet nicht, dass sie die Ganztexte ersetzen sollen. Aber ich glaube, Kurzfassungen haben eine wichtige Vermittlungsfunktion und die wird unterschlagen, wenn man einen kulturellen Maximalismus vertritt. Man muss eine literarische Kultur als eine Art Text-Ökologie verstehen, in der unterschiedliche Textformate zirkulieren und ineinandergreifen, auch in der Wahrnehmung der Leserinnen und Leser.

Wer autorisiert denn eigentlich diese Kurzfassungen?

Das ist seit der Antike eines der großen Probleme. Eine der ersten Äußerungen über Kurzfassungen, die überliefert sind, stammt von dem antiken Mediziner und Gelehrten Galen (geboren um 129 n.Chr. in Pergamon), der sagte: Es zirkulieren so viele nicht autorisierte Kurzfassungen von meinen Werken, ich muss es besser selber machen, auch wenn ich das eigentlich nicht will. Das Problem der Autorisierung ist immer da.

Der Dichter Klopstock wurde im 18. Jahrhundert tatsächlich von einem Lehrer gefragt, ob dieser für schulische Zwecke eine Kurzfassung eines seiner Werke erstellen und im Druck verbreiten dürfe. Klopstock hatte sich ausgebeten, noch einmal darübersehen zu dürfen, aber ließ es durchaus zu. Richtig wohlgefühlt hat sich Klopstock dabei sicherlich nicht. Andererseits gab es bei ihm das Bewusstsein, dass literarische Texte unglaublich schwierig und anspruchsvoll sein können und es sich keineswegs von selbst versteht, dass man sie liest und sofort damit klarkommt.

Mit KI kann man sich nun auch selbst Zusammenfassungen erstellen. Warum sollte man ein ganzes Werk überhaupt noch lesen?

Natürlich gibt es Romane, Epen, umfangreiche Dramen, die man angemessen nur verstehen kann, wenn man die komplexe Komposition des Ganzen nachvollzieht. Ich glaube, es ist eine sehr wichtige Aufgabe des Literaturunterrichts an Schulen, aber auch an der Universität, dafür ein Gespür und ästhetisches Bewusstsein herzustellen.

Ich glaube aber auch, dass es häufig sinnvoll ist, in einem ersten Schritt bestimmte übersichtsstiftende Formen zu benutzen, damit man zum Beispiel, bevor man sich mit einem umfangreichen Roman befasst, eine erste Orientierung hat, die Hauptlinien und Figuren kennt. Und damit man in einem zweiten Schritt weniger Schwierigkeiten hat, sich mit dem Ganzen zu konfrontieren, und vor allem auf die ästhetischen Merkmale achten kann, zum Beispiel die Sprache und darauf, wie sie poetisch verwendet wird.

Prof. Dr. Carlos Spoerhase hält ein Buch in der Hand

„Es gibt gute Formen, Texte in einer komprimierten Form zur Kenntnis zu nehmen. Das bedeutet nicht, dass sie die Ganztexte ersetzen sollen“, sagt Carlos Spoerhase. | © LMU/Florian Generotzky

Kann man Ihr Buch also als eine Art Plädoyer für Kurzfassungen verstehen?

Es ist ein Versuch, sich intensiver mit der Frage zu befassen, welche Funktion Kurzfassungen haben und was unsere Vorstellung einer gelungenen und für bestimmte Zwecke geeigneten Fassung ist. Und es ist ein Versuch, Kurzfassungen zu enttabuisieren.

Aus der Literaturwissenschaft heraus gibt es zum Beispiel Literaturlexika, die ja auch Zusammenfassungen von Werken enthalten. Und die natürlich im Journalismus, an der Universität oder in anderen kulturellen Kontexten sehr häufig benutzt werden. Oder im Vorfeld eines Theaterbesuchs, um sich mit einem Stück vertraut zu machen, an dessen Handlung man sich nicht mehr genau erinnern kann. Man redet nur nicht so häufig darüber. Das ist eher mit einer gewissen Scham belegt, weil man sich denkt: Eigentlich müsste ich das wissen, das hätte ich mir merken müssen. Wir sollten da etwas ehrlicher sein und zugeben: Wir benutzen das! Das ist natürlich nicht das Ganze. Aber es hat in bestimmten Kontexten eine wichtige Funktion, um in der Kultur zu navigieren, sich vorzubereiten und frei zu sein für die Wahrnehmung der ästhetisch relevanten Aspekte, zum Beispiel wenn man ins Theater geht und sich Schillers Wallenstein-Trilogie ansieht.

Sie nutzen also auch Kurzfassungen?

Ja.

Zur Person:

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Carlos Spoerhase im Porträt: Geistesarbeit ist ein sozialer Prozess

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Prof. Dr. Carlos Spoerhase ist Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit Schwerpunkt Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts.

Spoerhase studierte Neuere deutsche Literatur und Philosophie sowie Politische Theorie und Ideengeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo er auch promoviert wurde. Anschließend war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Kiel und der HU Berlin, wo er sich 2016 habilitierte. Nach Professuren an den Universitäten Mainz und Bielefeld nahm Carlos Spoerhase 2022 den Ruf an die LMU an. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem Literatursoziologie und Wissenschaftsgeschichte.

Publikation:

Carlos Spoerhase: Kurzfassungen. Über das Komprimieren von Literatur. Wallstein Verlag 2024

Schwerpunkt am CAS:

Auch am Center for Advanced Studies der LMU (CAS) bearbeitet Carlos Spoerhase Fragen des "Maßstabs". Gemeinsam mit Dr. Sina Steglich leitet er dort für die kommenden zwei Jahre den gleichnamigen CAS-Schwerpunkt.

Zum CAS-Schwerpunkt Maßstäbe: Zentrale Entwicklungen in den Geisteswissenschaften der letzten Jahrzehnte haben viel mit veränderten Maßstäben zu tun.

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